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Der Homo-Mensura Satz besitzt in den wenigen überlieferten Fragmenten eine
herausragende Bedeutung. Obwohl er von zwei unterschiedlichen Quellen erhalten ist,
zum einen bei Platon und zum anderen bei Sextus Empiricus kann man nicht ohne
Zweifel davon
ausgehen, daß es sich um authentische Wiedergaben der protagoreischen Gedanken
handelt.
Dieses Fragment stammt aus Platons Dialog Theaitetos (152a), in dem das protagoreische Zitat als eine These herangezogen wird. Theaitetos definiert in diesem Abschnitt des Dialoges, der die Frage nach Erkenntnismöglichkeiten behandelt, daß Erkenntnis nichts anderes als Wahrnehmung sei (151e). Sokrates macht ihn in diesem Zusammenhang darauf aufmerksam, daß er damit die protagoreische Lehre wiedergibt und führt eben jenen Satz an, der uns als der Homo-Mensura Satz bekannt ist. Neumann meldet aber dennoch letzte Zweifel an, wenn er bemerkt, daß man nicht mit letzter Sicherheit davon ausgehen kann, ,, daß Sextus Empiricus gerade in der Zitierung des Satzes von Platon unabhängig gewesen ist.`` Erschwehrend kommt hinzu, daß bei Platon und Sextus unterschiedliche Titel der protagoreischen Schrift angegeben sind. So nennt Platon als den Titel Alhetaia und Sextus Kataba'llotes. Die allgemeine Erklärung für diese Tatsache ist die, daß man den platonischen Titel (,, Wahrheit``) als den ersten Teil der Schrift benennt, dessen Titel Sextus Empiricus (,, Niederwerfende Reden``) verwendet.
Ein weiteres Problem taucht auf, wenn man die unterschiedlichen Übersetzungen betrachtet. Ein wichtiger Punkt in dieser Hinsicht ist das Wort chos, das in den verschiedenen Variationen sowohl mit ,, wie`` als auch mit ,, daß`` oder auch mit beiden zugleich übergesetzt wird. Nimmt man die Variante mit ,, wie``, dann lautet der Satz: Der Mensch ist das Maß aller Dinge, der Seienden wie sind, der nicht Seienden, wie sie nicht sind. Im Gegensatz dazu mit ,, daß`` ergibt sich auf den ersten Blick ein völlig anderer Sinn. Während die erste Form einen mehr qualitativen Aspekt beinhaltet, der die Existenz des Seienden und auch des Nichtseienden anerkennt, steht in der zweiten Form nur die Frage nach Existenz oder Nichtexistenz der Dinge, dessen Maß der Mensch ist. Nimmt man nur den ersten Teil des Satzes, so sagt dieser nicht weiter aus, daß die menschliche Subjektivität der eigentliche Bezugspunkt für die Erkenntnis ist. Der Mensch ist hier jedoch nicht als Gattungsbegriff, sondern als Individuum aufgefaßt. Damit ergeben sich weitreichende Konsequenzen. Wenn der Mensch nicht als ein Abstraktum, als ein Begriff für alle Individuen dieser Gattung, sondern in seiner Erkenntnis- und Entscheidungsfähigkeit über Existenz oder Nichtexistenz als einzelnes für sich bestehendes Wesen gemeint ist, dann ist jegliches Urteil das er fällt, ein individuelles und kann nicht als allgemein gültig anerkannt werden. Damit wäre die Möglichkeit einer asoluten Wahrheit ausgeschlossen. Vorhergehende Philosophien, die versuchten, einen Begriff als Ganzes zu fassen, sind mit ihrem kosmologischen Anspruch durch eine Philosophie ersetzt, die die Dinge aus den individuellen Gesichtspunkten betrachtet und von dort aus auf die Dinge schließt. Die Übersetzung des Homo-Mensura Satzes mit ,, daß`` scheint mir aus der heutigen sprachlichen Sicht, die sinnvollere zu sein. Zieht man noch einmal Neumann heran, so sagt er: ,, Denn von nichtseienden Dingen zu sagen, wie sie nicht sind, ergibt allem Anschein nach keinen rechten Sinn``. Auch hier ist ein weiterer Gesichtspunkt zu beachten, der diese Üersetzung plausibler erscheinen läßt. ,, Waren für die Alten Dinge und Dingqualitäten ihrem Wesen nach gleichartig, dann ist auch für sie in der Konjunktion chos der modale Aspekt (wie) im faktischen Aspekt (daß) aufgehoben.``\
Wie schon angedeutet ist die Frage der Üersetzung kein gelöstes Problem. Als einen der ,, daß``-Version abgeneigten Autor sei hier Wilhelm Nestle genannt. Er führt an, daß in dem platonischen Dialog an keiner Stelle über die Frage diskutiert wird, ob etwas sei oder nicht, sondern nur von Dingqualitäten die Rede ist. Für ihn ist die Annahme, daß der Mensch das Maß dafür sei, ob Dinge existieren oder nicht, absurd. Das Individuum ist nicht ausschlaggebend für die Existenz von Steinen, Pflanzen und dergleichen. Tatsächlich wird in diesem Dialog diese Frage nicht gestellt. Die Frage, welche sich hieraus ergibt ist die, ob mit der Diskussion über Dingqualitäten nicht die Sache selbst bereits als existent gesehen wird. Wenn man dabei bleibt, das in dem Wort chos beide Bedeutungen enthalten sind, sowohl ,, wie`` als auch ,, daß``, dann stellt es in der Tat keine Asurdität dar. Denn indem man über die Dingqualitäten diskutiert, hat man den Fakt, daß so etwas wie süß oder kalt überhaupt existiert, bereits angenommen.
Protagoras begründet seine Lehre in der Auseinandersetzung mit der eleatischen Lehre des Parmenides. Parmenides sah das Sein als ein unveränderliches an. Nur durch das Denken kann man kann man zu diesem Sein (Wahren) vordringen und es enthüllen. Jede Veränderung ist für Parmenides nur ein Schein, der durch die individuellen Sinneswahrnehmungen hervorgerufen wird. Eine objektive Wahrheit ist damit möglich, wenn man nur lange genug über das Sein nachdenkt.
Der zweite Teil des Satzes drückt aus, daß das, was ist, ist, was nicht ist, nicht ist. Da in der griechischen Philosophie nicht zwischen dem Seienden als dem Begriff der Wirklichkeit und dem aletes , dem Wahren als Eigenschaft des Urteils über die Wirklichkeit unterschieden wird, kann man den zweiten Teil des Satzes auch so lesen, daß man sagt, was wahr ist, ist wahr, was nicht wahr ist, ist nicht wahr. Für Protagoras ist Nicht-Seiendes nicht denkbar, was auch ein Merkmal der eleatischen Lehren ist. Deshalb kommt für ihn jedem Gedanken ein Wahrheitswert zu. Wenn also jemand sagt, wie es in dem Beispiel des platonischen Dialoges geschieht, der Wind erscheine ihm kalt, ein anderer jedoch behauptet, er erscheine ihm warm, dann kommt beiden Aussagen ein Wahrheitswert zu, obwohl sie das entgegengesetzte behaupten. Jedoch ist der Wahrheitswert damit eigentlich nur ein individueller, denn für den, dem der Wind kalt erscheint ist die Aussage des anderen, der behauptet er erscheine ihm warm, nicht relevant.
Eine Ursache für die Einbeziehung der Individualität in den Erkenntnisprozeß bei Protagoras ist sicher auch darauf zurückzuführen, daß er viel gereist ist. Das größtenteils fest gefügte Weltbild, das sich in einer Gesellschaft herausbildet, die ihre Erkenntnisse hauptsächlich in ihrem eigenen Kulturkreis gewinnt, beginnt sich zu Gunsten eines weniger fest gefügten zu wandeln, wenn der Wissenshorizont durch den Kontakt mit völlig anders gearteten Kulturkreisen erweitert wird. Der Schritt dahingehend, die eigene Erkenntnis nicht als eine allgemein wahre anzusehen, da man ja durch die Berührung mit anderen Kulturen sah, daß es noch andere durchaus gültige Weltvorstellungen gab, kann man auch als eine Folge dieses Umstandes betrachten. Mindestens jedoch wird es Zweifel daran aufgeworfen haben, ob die eigene Betrachtung der Welt unbedingt als eine für alle gültige angenommen werden kann.
Kehrt man noch einmal zu der Konsequenz der protagoreischen Lehre zurück, daß damit eigentlich ein ,, überindividuelles Kriterium ausgeschlossen`` wird, dann wird in gewisser Weise auch der Schwachpunkt seiner Lehre deutlich. Wenn die Subjektivität eines einzelnen Individuums zum alleinigen Ausgangspunkt für Erkenntnis gemacht wird, so wird damit vernachlässigt, daß ein Wechselspiel zwischen Gesellschaft und Individuum existiert. Der Mensch ist durch das Weltbild der Gesellschaft geprägt, in der er lebt. Davon ausgehend gewinnt er neue Erkenntnisse, die wieder in die Gesellschaft einfließen und diese damit beeinflußt.
Obwohl man bei der Rezipierung des Homo-Mesura Satzes den Eindruck gewinnt, daß
die protagoreische Lehre von einem grenzenlosen Sensualismus geprägt ist,
so war es für ihn dennoch maßgebend, daß es in bestimmten gesellschaftlichen
Verhältnissen
Grundsätze gibt, die einen allgemeinen Gültigkeitsanspruch
haben. Speziell in Hinsicht auf das Thema Staat ist eine Stelle im Dialog
Protagoras sehr interessant und relativiert zugleich diesen Eindruck. Wenn er
dort sagt: ,, Was immer einem Staat gerecht und schön erscheint, das ist
es auch zugleich für ihn, solange er es für gültig erachtet.`` (21a), dann wird
über das Individuum ein allgemeiner gültiges Recht gesetzt, das für
bestimmte Begebenheiten über deren eigene Wahrheit liegt, wenn auch diese
nicht aufhebt. Man kann dieses Fragment aber auch in die protagoreische
Philosophie einordnen, ohne seinen Relativismus aufzuheben. Dazu wäre es jedoh
nötig eine hierarchische Struktur einzuführen. Nimmt man den Staat, der
sicher aus vielen einzelnen Personen besteht, selbst als ein individuelles
Gebilde, dann sind dessen Gesetze, die auf die in ihm lebenden Personen
herunterwirken, für diesen Staat individuelle Wahrheiten, welche aus seiner
Position heraus bestehen. Daneben kann jedoch in einem Staat, der vielleicht
einem anderen Kulturkreis angehört, dieses Recht nicht gültig sein, denn aus
seiner Sicht ist genau die entgegengesetzte Position die für ihn gültige. Die
Konsequenz wäre, daß man eine Art Wahrheitshierarchie einführt, die als
unterste Stufe die Wahrheit des einzelnen Menschen hätte und deren oberste
Stufe sich in den Gesetzen des Staates audrückt. Diese Gesetze selbst sind
jedoch auch keine absoluten Wahrheiten, da sie sich nur auf einen bestimmten
Staat beziehen.
Sieht davon ab, daß die Interpretation des Homo-Mensura Satzes ein sehr zwiespältiges Unterfangen ist, so ergeben sich doch einige Merkmale seiner Lehre. Dadurch, daß Protagoras den Menschen zum Maß für Erkenntnis macht, wird Wahrheit nicht mehr nur als ein Absolutes aufgefaßt, sondern auch in der Welt der Lehre möglich. Im Gegensatz zu Parmenides existiert Wahrheit als Ergebnis eines individuellen Erkenntnisprozesses. In Zusammenhang damit steht die Einführung der Qualitäten der Dinge als Bestandteil der Erkenntnis, ohne allein von diesen auf die Dingen an sich zu schließen. Jede Erkenntnis ist von der Wahrnehmung bestimmt und damit individuell. Das Wesen der Dinge, das Sein an sich, kann somit nicht erfaßt werden.
Das Fragment des Protagoras, in welchem er seine Position über das Wissen der
Existenz der Götter darlegt, läßt sich nicht direkt nachweisen. Vielmehr
stellt es eine Kombination von Diogenes Laertius (9,51) und Eusebius (Praep. ev.
14, 3, 7) dar. Die früheste Erwähnung findet dieser Gedanke bei Platons
Dialog Theitetos. Sokrates macht Theitetos darauf aufmerksam, daß er sich in
den Fragen der Weisheit mit jedem andern Menschen und auch mit den Göttern
gleichsetzt. ,, Sage also Theitetos, zuerst was wir jetzt eben durchgegangen
sind, ob du dich nicht ebenfalls verwunderst, daß sich auf einmal zeigt, du
seist um nichts schlechter in der Weisheit als irgendeiner unter den Menschen
oder auch unter den Göttern``. Hiernach
führt er den protagoreischen Gedanken an: ,, Ihr trefflichen Knaben und
Greise sitzt hier zusammen und führt verfängliche Reden, indem ihr die
Götter mit hineinzieht in die Sache, welche ich gänzlich beiseite setze im
Reden sowohl als im Schreiben, ob sie sind oder nicht
sind. Der volle Worlaut des Fragmentes,
so wir uns heute bekannt ist lautet:
Dieses Fragment ordnet sich in den protagoreischen Kulturenstehungsmythos ein.
Diese Theorie findet sich wieder in dem Dialog
''ProtagorasfootnotePlaton, Protagoras, 320d-323a. Es ist das einzige größere
zusammenhängende Stück einer protagoreischen Lehre, welcher jedoch ,,
weitgehend objektive Kriterien zur Überprüfung seiner ,
doxographische` Zuverlässigkeit`` fehlen. Folgt man Platon, so beinhaltet
der Kulturentstehungsmythos folgenden Verlauf:
Die Götter schufen die Erde und die Lebewesen. Prometheus und Epimetheus
wurden beauftragt, diese mit Eigenschaften auszustatten, die es ihnen
gestattete, als ihre Art zu überleben. Prometheus sollte die Verteilung des Epimetheus
besichtigen. Die einzige Gattung die er vergaß mit entsprechenden
Eigenschaften auszustatten, war die Gattung Mensch. Prometheus stiehlt daraufhin
die Weisheit des Hephaistos und der Athene und das Feuer, denn ohne dieses
wäre auch die Weisheit zu nichts nütze. Damit hatte der Mensch, indem er ein
Teil der Göttlichkeit besaß, nämlich das Feuer, die Voraussetzung für die
Wissenschaft. Ihre Wissenschaft und ihr Feuer nutze Ihnen jeoch nichts, um sich
als Art behaupten zu können. Sie besaßen zwar die Weisheit, aber waren
ganzlich unfähig zu kämpfen. Sie versuchten sich zu sammeln, um zu
überleben. Da sie die bürgerliche Kunst nicht erlernt hatten, waren sie
unfähig zusammenzuleben. Die Folge war, daß sie widerum auseinandergingen und
den ihnen in der Kriegskunst überlegenen Tieren zum Opfer fielen. Nochmals
halfen die Götter diesen Mangel zu überwinden. Zeus sandte den Menschen das
Recht und die Scham, damit die Grundlage für die Gründung der Städte und
damit des Staates geschaffen waren und die Menschheit nicht unterginge.
Betrachtet man diese protagoreische Lehre, so scheint zunächst ein Widerspruch zu den im ersten Teil näher betrachtetn Homo-Mensura-Satz zu bestehen. Wenn man dem Menschen die Teilnahme am Göttlichen durch den Besitz des Feuers zugesteht (vgl. 322a), so setzt dies eigentlich voraus, daß man Kenntnis vom Göttlichen und damit von den Göttern hat. Dies würde sich jedoch nicht mit dem Agnostizismus Protagoras' vereinbaren lassen. Müller bietet eine Interpretation mehr aus der kulturhistorischen Position her an. Das Feuer ist eine notwendige Voraussetzung für die menschliche Geschicklichkeit die sich in den teknai verwirklicht. Das der Besitz des Feuers die Teilnahme am Göttlichen bedeutet, so betont er, liegt erst einmal im Mythos selbst begründet, da dieses den Göttern entwendet wurde. Damit kommt dem Menschen eine Sonderstellung innerhalb der Lebewesen zu.
,, Die religionsgeschichtliche Überlegung von Plat. Prot. 322a basiert auf dem Phänomen der Übereinstimmung von geglaubten Göttern und glaubendem Menschen``. Der Glaube an Götter rührt von der Teilnahme des Menschen am Göttlichen her. Die Theologie und der Mythos sind eine Folge desselben. Betrachtet man das Verhältnis von Göttlichem und Menschen nicht aus der Position heraus, daß das Göttliche Zentrum der Betrachtung ist, sondern nimmt einen mehr ,, anthropozentrischen`` Standpunkt ein, so bleibt dennoch die Beziehung in dem Maße bestehen, wie sie Gegenstand der bisherigen Betrachtung war. Eines jedoch verändert sich. Nicht mehr das Göttliche ist das Maß an dem der Mensch gemessen wird, sondern das Göttliche wird nun an dem Maß Mensch gemessen. Der Götterglaube wird zur Spiegelung oder Projektion des Menschlichen. Wenn jedoch der Mensch zum Maß des Göttlichen wird und man Protagoras Auffassung nimmt, daß es keine allgemeingültige Wahrheit gibt, sondern alles der subjektiven Empfindung unterliegt, so wird sein Satz, daß er nichts über die Götter sagen kann, ob sie existieren oder nicht u.s.w., verständlich. Denn, wenn man Müller folgt, unterliegt auch der Götterglaube einem subjektiven Charakter, über welchen keine für alle geltenden Aussagen gemacht werden können. Protagoras knüpft damit an die anthropomorphen Gottesvorstellungen durch Xenophanes an..
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